Das ist ganz schön beängstigend: Den zweiten Tag in Folge stehe ich am Beginn eines Tages, an dem ich weder etwas zu schreiben habe, noch wirklich etwas zu lesen (den zwei Zug-Fahrten Wien-Venedig-Wien sei Dank: Ich bin erstmals halbwegs im universitär aufgedrängten Lektüre-Zeitplan). Und nach dem Querlesen der Tageszeitungen der letzten vier Tage ist sie da: Die gedankliche Leere, nein Weite: Nichts schreiben zu müssen – ein Gefühl, das Seltenheitswert gewonnen hat. So sehr ich meine Arbeit auch liebe.
Und bevor sich mein Kopf nun gefährlich mit zu produzierender Literatur füllt – eine Angst, die ich seit eineinhalb Jahren mit Nicht-Dichten erfolgreich bekämpft habe – kehre ich zu jenem Ansinnen zurück, das ich vor einigen Wochen hier geäußert habe. Eine kleine Analyse der Verrohung meines Musik-Konsums, seit es das Internet in meinem Leben gibt.
Es war ein Moment mit Seltenheitswert. Ich stand im Mediamarkt und suchte das neue Marilyn Manson Album, das an diesem Tag erschienen war. Allein: Ich fand es nicht. So musste ich mich überwinden, und etwas tun, das ich seit zirka zehn Jahren nicht getan habe: Ich konsultierte einen Verkäufer. Der konnte mir zwar auch nicht helfen, aber schlussendlich hielt ich sie in Händen. Eine waschechte CD, 19,99 Euro, die Special-Edition natürlich, und der Titel ist Programm: „The High End of Low“. Wie tief kann ein ehemaliger Musik-Freak wie ich noch sinken? Das letzte Album, für das ich bezahlt habe, war „In Rainbows“ von Radiohead, und das hab ich via Kreditkarte um 5 Pfund Spende im Internet runtergeladen. Im Ernst: An jenem Freitag musste ich scharf nachdenken, ob ich überhaupt einen CD-Player besitze. (Ich besitze einen: Das CD-Fach war noch zugeklebt).
Und da tat ich etwas, was ich zuletzt zu einer Zeit getan habe, in der ich noch Mathe-Hausübungen gemacht und Latein-Deklinationen mit dem Zirkel in Fineliner geritzt habe. Ich lehnte mich zurück, drückte auf Play, hörte durch die Boxen meines jungfräulichen Cd-Players eine Soundqualität, wie sie kein Laptop der Welt bieten kann und öffnete das Booklet. Nach einer halben Stunde Zuhören und Lyrics-Lesen wurde ich unruhig. Was war das? Hörte ich ganz im Ernst und ganz ohne Stress ein ganzes Album? War ich gerade dabei, zwei Stunden meines Lebens einer einzigen Tätigkeit zu widmen? Kein nebenher Wäsche-Waschen, Abstauben, Katzenfüttern und ungeduldiges Weiterzappen? Ich hörte Musik, wie man in den 90er Jahren (und davor) Musik gehört hat. Ausschließlich und mit Eifer.
Es war wie freiwillig ins Theater zu gehen oder aus Jux und Tollerei eine Ausstellung zu besuchen, über die ich nicht schreiben muss. Entspannung auf der ganzen Linie, intime Gedanken, die niemals ausformuliert oder einem Qualitätskriterium unterzogen werden müssen, einfach Musikhören. Ein ganzes Album. Auch jene Songs, die niemals auf einer Single erscheinen werden und die wahren Meisterwerke sind.
Wie habe ich die letzten, sagen wir acht Jahre verbracht? Meine CD-Sammlung verstaubt mehr oder weniger geordnet in einem Regal, nicht selten hab ich überlegt, die silbernen Scheiben einfach auf den Müll zu werfen. Hunderte, wenn nicht Tausende von Euros (und viele, viele Schillinge) stecken in dieser vor sich hin modernden CD-Sammlung. Wollte ich in den letzten Jahren einen bestimmten Songs hören, griff ich nicht ins Regal, sondern haute in die Tasten: Lud mir betreffenden Song runter oder genehmigte mir das dazugehörige Video auf YouTube. Die rund 100 wichtigsten Songs meines Lebens befinden sich auf einer 1 GB-Speicherkarte, die in meinem Handy steckt, und wenn ich die Kopfhörer nicht gerade verschmissen habe, unternehme ich bei langen U-Bahn-Farten eine kleine Reise durch meine emotionale Vergangenheit. Doch was ist mit den Tausend Songs, die ich einst so liebte, und die auf diesen kleinen, verkratzen Silberscheiben ruhen, die es nirgendwo runterzuladen gibt und die langsam, aber doch in Vergessenheit geraten?
Dass es mir nicht an Zeit mangelt, sehe ich an Tagen wie heute. Ich werde ein paar CDs ausgraben, dem CD-Player, der sonst lediglich das Ö1 Morgenjournal in meine müden Gehörgänge treibt, seine wahre Bestimmung zurückgeben. Und hoffen, dass ich wieder lerne, eineinhalb Stunden einer einzigen Band zu lauschen. Bevor sie irgendwann aufhören, Musik zu machen.
Und um dem Kitsch eine Krone aufzusetzen, hier ein kleiner Auszug aus den 100 wichtigsten Songs, vielleicht entdeckt ja jemand Neues oder eine alte Liebe. Reihenfolge entspricht Zufallsprinzip.
Noir Desir: L’appartement
Frank Zappa: Sofa # 2
Led Zeppelin: Stairway to Heaven
Mark Knopfler: Sailing to Philadelphia
Placebo: Twenty Years
The Doors covering: Paint it Black
Sinead O’Connor covering: Sacrifice
Pink Floyd: Shine on you Crazy Diamond
Marilyn Manson covering: Working Class Hero
Bad Company: Shooting Star
Bob Dylan covering: Hallelujah
Radiohead: Paranoid Android
Guns’n’Roses: Paradise City
Dire Straits: Tunnel Of Love
Dr. Hook: Sylvia’s Mother
moi. was für ein schöner und wahrer beitrag.